Twelve Days to London
Tag 9 - Hannibal ante portas

Tag 9 - Hannibal ante portas

1883, Jul 13    

Die Meldungen des Tages: +++ Französische Truppen marschieren auf London zu. +++ Australier befreien de Bates aus dem belagerten Margate. +++ Löwin von Southend wohlauf in der Normandie. +++

Franzosen vor London

Global Examiner, New York, 13. Juli

Aus London berichtet unser Korrespondent Robert Woolworth.

Auf der Straße raus nach Oxford stauen sich überladene Karren. Die Menschen versuchen, mit ihrem Hab und Gut aus der Stadt zu entkommen. Die Hiobsbotschaft kam gestern Abend: Die Verteidigungsstellung am River Medway ist gefallen! Zwei Tagesmärsche von der Stadt entfernt setzt nun die französische Streitmacht über den Fluß. Dort, wo schon der Römische Feldherr Aulus Plautius das Schicksal Britanniens auf Jahrhunderte besiegelt hatte, haben nun auch die Armeen der französischen Republik den Zugang ins Innere der Insel erkämpft. Und das in einer Schlacht, die Gerüchten zufolge als wohl vorbereitetes Verteidigungsgefecht begonnen hatte und in einem unübersichtlichen, blutigen Chaos endete. Und auch aus dem nördlichen Essex tragen Flüchtlinge beunruhigende Nachrichten in die Stadt. Obwohl Viscount Mallingham mit seiner Kavallerie dort auf den weiten Ebenen einen grandiosen Sieg nach dem anderen feiert, marschiert auch von dort immer noch eine französische Armee auf London zu. Die Londoner selbst sind in ihrer Reaktion gespalten. Viele versuchen, die Stadt zu verlassen, andere bewaffnen sich, vernageln Fenster bauen Barrikaden in den Straßen. Doch viele versuchen auch immer noch, der Situation mit britischer Gelassenheit zu begegnen. Im Reform Club trifft man sich nach wie vor für eine Runde Whist, die Damen der Oberschicht flanieren mit ihren Sonnenschirmen im Battersea Park und die Herren lüften ihre Zylinder zum Gruß. Man zelebriert in diesen Kreisen demonstrativ “business as usual”.

Karte

Die gute Mutter von Le Havre

Der Neue Tag, München, 13. Juli.

Aus der Normandie berichtet unser Korrespondent Karl Unterberg.

Eine angenehm kühlende Brise weht über dem Gefangenenlager “Marie” gleich neben der Küstenstadt Le Havre in der Normandie. Reservisten der französischen Armee haben hier in den letzten Wochen hastig eine hoch umzäunte kleine Stadt aus Zelten errichtet. Hier sind zur Zeit etwa 1500 Kriegsgefangene untergebracht, die meisten von ihnen Infanteristen der Victoria Volunteers und Adelaide Volunteers. Und doch ist es nicht ausschließlich ein riesiger australischer Männerhaushalt, den die Umstände hier zusammengebracht haben. Denn das Regiment in diesem Lager führt in Wirklichkeit nicht etwa Major Gibson, der nominal ranghöchste Offizier vor Ort - er residiert ohnehin außerhalb des Lagers als Gast im Anwesen eines pensionierten französischen Obristen - nein, es ist eine rüstige alte Dame, die hier von allen als oberste Autorität anerkannt wird. Mrs Margareth Pennypickle, bekannt geworden als die “Löwin von Southend-Pier”, hat es auch auf einem Gefangenentransport in dieses Lager verschlagen. Und nun ist sie hier so etwas wie die gute Mutter des Lagers geworden. Angebote ortsansässiger Familien, als Gast in einem richtigen Haus unter zu kommen, hat sie bisher hartnäckig ausgeschlagen. Sie zieht es vor, weiter in ihrem Zelt am Ostrand des Lagers zu nächtigen, denn dort ist sie “ihren Jungs” einfach näher, kann sich ihre Sorgen und Nöte anhören, aufmunternde Worte sprechen, oder einfach in der Feldküche einen ihrer inzwischen berühmten Limettenkuchen backen. Jeden Nachmittag trifft sie die Frau des Bürgermeisters von Le Havre zum Kaffee. Madame Foche stammt eigentlich von der Kanalinsel Guernsey und ist froh, sich wieder regelmäßig mit jemandem ihrer Muttersprache unterhalten zu können. Neben allerlei Tratsch und Kuchenrezepten kommen bei dieser Gelegenheit auch immer wieder die Anliegen der Gefangenen zur Sprache, für die sich die beiden Damen nach Kräften einsetzen. Unter den Gefangenen selbst ist die Stimmung oft trübe, zu tief sitzt der Frust über die Niederlage so fern der Heimat, zu tief der Schmerz über verlorene Kameraden und Freunde. “Wir hatten uns tagelang eingegraben und gut vorbereitet,” berichtet ein niedergeschlagener junger Private. “Wir hielten uns für unbesiegbar hinter unseren Schanzen. Aber dann wurden wir von der französischen Artillerie gnadenlos zusammengeschossen und schließlich von einer zehnfachen Übermacht überrannt. Wir hatten gar keine Chance. Ich hab noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen, nicht mal in London.” Sein Zeltgenosse möchte das folgendermaßen kommentieren: “Die Engländer haben uns geopfert, um für ihre eigenen Leute Zeit zu kaufen. Eigentlich ist mir inzwischen egal, wie der Krieg ausgeht, Hauptsache schnell. Ich bin durch mit Europa. Daheim in Melbourne wartet meine Verlobte auf mich. Da gehöre ich hin. England geht mich nichts mehr an.” Am Abend wird Mrs Pennypickle, die gute Mutter von Le Havre, zu ihren Jungs zurückkehren und dann sicher ein Lächeln in das eine oder andere betrübte Gesicht zaubern.