Twelve Days to London
Tag 5 - Siegestaumel auf beiden Seiten

Tag 5 - Siegestaumel auf beiden Seiten

1883, Jul 09    

Es ist ein verwirrender Tag für den aufmerksamen Beobachter der großen Weltpolitik. Sowohl in Paris, als auch in London feiern die Menschen auf den Straßen die Siege des gestrigen Tages…

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Entscheidender Sieg in Shoreham!

Daily Telegraph, London, 9. Juli.

Der Krieg in Sussex ist beendet! Drei Tage lang dauerte die Schlacht um den Kessel von Shoreham, wo die verblieben Reste des französichen Armeekorps, daß die Kapitale des Empires von Süden her bedrohen wollte heute kapituliert haben! Auf den Straßen Londons feiern und jubeln die Massen. Sogar ein Bürgerkomitee wurde gegründet, um für die Rückkehr der siegreichen Armee in ihre dankbare Hauptstadt einen Triumphzug nach römischem Vorbild zu organisieren. Selbst der Croissant-Bäcker am Piccadilly Circus, dem noch gestern wütende Arbeiter die Scheiben eingeworfen hatten, wurde heute von Passanten spontan umarmt und von den Nachbarn mit Blumen beschenkt…

Kapitulation

Die Woche im Bild, Bern, 8. Juli

unser Auslandskorrespondent Rudolf Sternberg berichtet.

Das Spektakel endet. Nach den schrecklichen Szenen, die sich gestern auf den Hügeln bei Brighton abgespielt haben, ist die dreitägige Schlacht heute zu ende gegangen. Bis in den späten Vormittag haben die Kanonen in Brighton die französische Flotte davon abhalten können, ihre in Shoreham eingeschlossenen Kameraden zu evakuieren. Umzingelt in einer unterlegenen Position traf der französische Kommandeur gegen 11:45 die Entscheidung, das Leben seiner Männer schonen und den mit eingeschlossenen Zivilisten ein Bombardement zu ersparen. Er trat, ein weißes Taschentuch an die Spitze seines Säbels geknotet, persönlich vor die Linien der Engländer. Der in zahlreiche blutige Verbände gewickelte Offizier erklärte die bedingungslose Kapitulation und übergab sein Schwert an Brigadier General Hollowmark von der 5. britischen Infanteriedivision. Dieser gab ihm prompt seine Waffe und einen Handschlag zurück. Jene Franzosen, die noch gehen konnten kamen auf ein Zeichen ihres Kommandeurs mit erhobenen Händen aus dem Ort, in den bald darauf von allen Seiten die britischen Truppen einrückten. Schnell mischten sich auch neugierige Zivilisten unter die Kombattanten, und in dem unzerstörten, aber von erbärmlich zugerichteten Verwundeten überfüllten Städtchen spielten sich herzerwärmende Szenen ab. Während die Rotröcke die Straßen sicherten und die Brighton Gentlemen Defenders neben der Errichtung seeseitiger Barrikaden die eine oder andere Trophäe an sich brachten kamen Frauen aus Brighton und den anderen Nachbarorten und versorgen die Verwundeten. Später wurde dann ein Boot unter Parlamentärsflagge zum französischen Geschwader vor der Küste entsandt, und nun bringen zahlreiche Boote die verwundeten Franzosen hinaus zu den Schiffen ihrer Kameraden. Indes werden sich nun die verbliebenen etwa 600 Männer der 8. französischen Kavalleriedivision mit ihrem Kommandeur, General Adolphe Parcoureur, in Gefangenschaft begeben. Einen Mangel an Mut kann man ihnen nach dem erfolglosen Angriff von gestern sicher nicht nachsagen. Ihren Mut feiern indessen die Männer der Brighton Gentlemen Defenders, die heftig darüber diskutieren, in welcher Pose Lady Butler ihren Sieg in einem Gemälde verewigen soll. Und die Spendensammlung für eine Gruppe von Bronzestatuen auf der Uferpromenade ist auch schon im Gange.

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Der Durchbruch!

Der Neue Tag, München, 8. Juli.

Aus der französischen Hauptstadt berichtet unser Korrespondent Karl Unterberg.

Siegestaumel, Sprechchöre und Fahnenmeere prägen heute das Straßenbild in Paris. Nach einer offiziellen Verlautbarung des Kriegsministeriums konnten die Französische Armee bei Boughton in Kent gestern den entscheidenden Durchbruch erkämpfen. Eine Australische Division, die sich in und um Boughton eingegraben hatte, wurde dabei vollständig vernichtet, geschätzte 2000 Australier gerieten dabei nach Armeeangaben in Gefangenschaft, bis zu 2000 weitere sollen derzeit die Lazarette der französischen Expeditionstruppen füllen. Der Kommandeur der Australier, General Charles Osmundson, soll sich derzeit mit leichten Verletzungen, aber intakter Soldatenehre in Canterbury befinden. “Unsere Jungs haben uns stolz gemacht! Das ist der entscheidende Durchbruch, die Straße nach London steht uns nun offen”, wird der Kriegsminister zitiert. Auf die Frage hin, ob man denn auch den englischen Widerstand in den belagerten Städten Dover und Margate endlich beendet hat, antwortete der Minister gut gelaunt: ”Unser Ziel bleibt London. Wir wollen doch den Kuchen, da werden wir uns auf dem Weg nicht nach Krümeln bücken!”

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Irritationen um den Margate-Zwischenfall

Global Examiner, New York, 9. Juli

Die Berichte aus dem belagerten Margate ziehen weitere Kreise. Heute bestellte die US-Regierung den englischen Botschafter ein und forderte Aufklärung über die Berichte zu Kriegsverbrechen, die von englischen Truppen in Margate begangen sein sollen. Die Regierung Argentiniens hat, wie unser Korrespondent in Buenos Aires berichtet, beim englischen Gesandten aufs Schärfste gegen die Verbrechen in Margate protestiert. Laut einem ausführlichen Bericht des Gesandten wird in den Straßen bereits Geld für französische Kriegsopfer gesammelt, es ist die Rede von der Bildung eines Freiwilligenkorps. Eine vertrauliche Quelle berichtet, daß die deutsche Regierung dem englischen Gesandten in einem vertraulichen Gespräch zwar weiterhin wohlwollende Neutralität zugesichert hat, sie warnt aber gleichzeitig vor der negativen Wirkung, die derartige Aktionen auf andere Neutrale haben könnten. Aus Frankreich selbst kamen dagegen Töne, die sogar überraschend versöhnlich klangen. Der Französische Außenminister dazu heute in einem Interview: “Ich denke, wir sollten erstmal ganz ruhig bleiben. Ich denke nicht, daß man solchen Gerüchten immer gleich Glauben schenken sollte. Wir leben doch in einer zivilisierten Welt. Dieser unsägliche Krieg, den wir nie gewollt haben, wird ja in ein paar Tagen vorbei sein. Und dann werden wir in der Position sein, in aller Ruhe prüfen zu können, was da wirklich vorgefallen ist. Und wenn sich, was ich nicht glaube, die Vorwürfe bewahrheiten, werden uns bei allem Verlangen nach Gerechtigkeit auch weiter zivilisiert verhalten, und allen, die dafür verantwortlich sind, vor einem ordentlichen Standgericht den Prozess machen.”